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Bilanz einer Ver(w)irrung
Informationen, Berichte und Argumente zum Umdenken nach Tschernobyl
ISBN 3-453-43090-5, 1986, S.14 - S.37
Wenn der Körper selbst zur Strahlenquelle wird
I. Zur Vorgeschichte dieses Buches (Auszug):
Am 14. Mai erschien in der Süddeutschen Zeitung unter der Überschrift Wenn der Körper selbst zur Strahlenquelle wird ein Artikel von mir, in dem ich zu den Verwirrungen im Zusammenhang mit der aus dem Reaktorunglück von Tschernobyl zu uns gelangten Radioaktivität und den daraus zu ziehenden Konsequenzen - aber auch allgemein zu den Verirrungen unserer Energiepolitik - Stellung nahm. Die Reaktion auf den Artikel übertraf alle Erwartungen, so daß sich die Redaktion entschloß, einen Sonderdruck davon herzustellen, der dann über 50000 mal angefordert wurde. Eine ganze Anzahl von Organisationen bis hin zu Einzelpersonen erbaten die Erlaubnis, den Text abzudrucken und als Flugblatt zu verteilen. Darüber hinaus wurde er in den verschiedensten Zeitungen, Zeitschriften und Fachblättern ganz, erweitert oder in Auszügen abgedruckt. Mein Institut mußte täglich mit Dutzenden von Anrufen und Briefen fertig werden, Vorträge und Podiumsdiskussionen wurden in die laufende Arbeit eingeschoben, und immer wieder kam die Bitte nach ergänzender, vertiefender Information, wie sie in einem Zeitungsartikel mit seiner zwangsweise verkürzten Darstellung nicht gegeben werden konnte. Da das dem Artikel zugrundeliegende Manuskript ohnehin schon ungefähr doppelt so lang war und durch das Feedback aus der Öffentlichkeit zum besseren Verständnis mancher Passagen noch mehrmals von mir ergänzt wurde, entschloß ich mich, das Ganze zusammen mit mir wesentlich erscheinenden weiteren Berichten und Kommentaren - auch solchen anderer Autoren - und entsprechenden verbindenden Texten als Taschenbuch herauszugeben. …
II. Bilanz einer Ver(w)irrung
Die Verwirrung durch unzureichende, fehlerhafte, unverstandene, verschleierte oder gezielt gesteuerte Information in den ersten Tagen nach Tschernobyl machte viele Menschen betroffen. Die Seifenblase der langjährigen Beschönigungen durch die PR-Abteilungen der Kernenergie-Lobby war plötzlich geplatzt: erschreckende Hilflosigkeit der Behörden, ein Fiasko bei den Katastrophenplänen, aber auch Ratlosigkeit der Experten, Dementis, widersprüchliche Meßwerte und Bezeichnungen.
Daran trägt, abgesehen von allen Vorwürfen, die man sich gegenseitig machen könnte, nicht zuletzt auch ein Umstand bei, der in der Sache selbst liegt. So hat sich offenbar kaum einer wirklich klargemacht, daß schon die Materie selber, um die es hier geht, Besonderheiten aufweist, bei denen die gewohnten Denkschablonen versagen müssen. Denn radioaktive Vorgänge konfrontieren uns in Bezug auf Technik, Physik, Chemie und Biologie mit Phänomenen, wie wir sie aus den klassischen Naturwissenschaften und deren Anwendung auf die Realität nicht gewohnt sind. Die Kompliziertheit der Materie erschwert daher nicht nur vielen Laien den Zugang, sondem auch manchem Experten, sobald sich eine Fragestellung, die mit Radioaktivität zu tun hat, nicht mehr auf sein Spezialgebiet bezieht. Deshalb auch die vielen widersprüchlichen Meinungen und Aussagen von Fachleuten, die vielleicht im Detail recht haben, aber bezogen auf die komplexe Realität völlig daneben liegen können. Ich habe daher immer wieder versucht, die komplexen
Zusammenhänge dieses Gebietes von einem übergreifenden Systemansatz aus darzustellen. Das gilt auch für
den folgenden Text, der eine Langfassung meines zu Anfang erwähnten Artikels ist. Darin wurden zum Verständnis der Vorgänge um den Reaktorunfall in Tschernobyl zunächst sechs Fragen zum Wesen der Radioaktivität herausgegriffen, die immer wieder aus der Bevölkerung in den ersten Maitagen gestellt wurden. Die sich daraus ergebende siebte Frage, die natürlich vielen Menschen auf dem Herzen liegt, nämlich nach den Konsequenzen der >unmöglichen< Katastrophe und nach den Auswegen aus der bisherigen Verirrung, versuchte ich dann mit einigen grundsätzlichen Überlegungen zu unserer Energiepolitik zu beantworten.
Wenn der Körper selbst zur Strahlenquelle wird
1. Kann man natürliche und künstliche Radioaktivitätgleichsetzen?
Hier besteht eine der brisantesten Informationslücken in der Öffentlichkeit. Entgegen der immer wieder betonten Feststellung der Betreiber und der von ihnen informierten Behörden, daß es zwischen natürlicher und künstlicher Radioaktivität keine Unterschiede gäbe und daß eine Belastung z.B. durch l Röntgen aus natürlicher Strahlung dasselbe sei wie durch l Röntgen aus einem Reaktorunfall, ist der Unterschied in
der Realität gewaltig und fundamental.
Die ständige und sehr schwache natürliche Radioaktivität, an die sich unser biologischer Reparaturmechanismus im Laufe der Erdgeschichte angepaßt hat, besteht nämlich bis auf wenige Ausnahmen aus >immaterieller Strahlung<, die von außen auf den Körper trifft, zum Teil schon gar nicht erst durch die Haut dringt und, wenn sie vom Körper einmal absorbiert ist, dort hinterher nicht mehr weiterstrahlt.
Die Strahlenquelle selbst befindet sich entweder gar nicht auf der Erde, sondern sitzt in der Sonne oder im Kosmos oder ist in Gesteinen in der Erde fest gebunden. Nur zu einem Teil und dies ist auf wenige Radionuklide beschränkt (z. B. Kalium-40, Radon-222) - ist die natürliche Radioaktivität an Materie gebunden, die in den Körper gelangen kann. Und nur diese wandert als materielle Strahlenquelle durch die Lebeweit. Der Rest ist, wie gesagt, externe kosmische oder terrestrische Strahlung, deren Quelle nie unmittelbar mit uns in Berührung kommt. Von ihr erhalten wir sozusagen nur die Geschosse, nicht aber die Geschütze. Aus Kernkraftwerken entwichene Radioaktivität, auch wenn sie nur wenig über dem natürlichen Strahlenpegel liegt, besteht dagegen ausschließlich aus radioaktiven Atomen, also der strahlenden Materie selber.
Für die üblichen Meßgeräte ist es nun dasselbe, ob die Strahlung von einer Quelle aus dem Kosmos bzw. tief aus der Erde kommt oder ob sich diese Quelle in Form radioaktiver Atome unmittelbar vor dem Meßfenster befindet. Für ein Lebewesen ist das anders. So kann sich die natürliche (weitgehend materielose) Strahlung, von den erwähnten Ausnahmen abgesehen, nie im Körper festsetzen, noch kann sie sich und das gilt auch für die natürlichen radioaktiven Nuklide, soweit sie, wie Z.B. beim Kalium-40, in konstanter Verdünnung mit ihrem stabilen Isotop vorliegen - in den Knochen, in Weichteilen oder in der Schilddrüse anreichern. Außerdem bestreicht die von außen kommende Strahlung unsere Körperzellen in statistischer Verteilung und ohne Bevorzugung einer Gewebeart - eine Belastung, mit der unser genetischer Reparaturmechanismus offenbar einigermaßen fertig wird, obgleich dieser möglicherweise schon durch den erhöhten Fallout-Level der Atomtests seit den 60er Jahren überfordert ist.
Noch einmal: Strahlende Materie aus einem Reaktorunfall kann ohne Ausnahme prinzipiell vom Organismus aufgenommen werden, wobei die Strahlenquelle selber im Körper sitzt und dort weiterstrahlt, auch wenn sie von außen nicht mehr meßbar ist. Die Strahlung wirkt zudem noch konzentriert auf das umliegende Gewebe, dessen Reparaturvermögen dafür nicht mehr ausreichen mag, insbesondere wenn dann in bestimmten Geweben, Zellarten oder im Innern einer Zelle unbemerkt eine lokale Anreicherung über die Nahrungskette erfolgt. Diese kann im Laufe der Zeit ein Mehrtausend- bis Millionenfaches gegenüber der Umwelt betragen (vgl. die Werte in Tabelle l). Tabelle l Anreicherungsfaktoren einiger Radionuklide aus radioaktiv belastetem Wasser in der Nähe verschiedener Kernenergieanlagen (vor Tschernobyl)
2. Was bedeutet das für die Beurteilung der tatsächlichen Gefährdung anhand der bloßen Meßwerte?
Offenbar hat sich, was die üblichen Berechnungen der Aquivalenzdosis (bei der Umrechnung von Becquerel in rem/Jahr) betrifft, in weiten Kreisen ein Denkfehler eingenistet. Man glaubt hier, daß im biologischen Geschehen lediglich die Gesamtenergie an ionisierender Strahlung entscheidend sei,
ganz gleich, ob diese von außen kommt, also in statistischer Verteilung mal die, mal jene Zelle trifft, oder ob sie von innen, sozusagen in kugelförmiger Abstrahlungspezifisch das umliegende und eventuell bevorzugt befallene Gewebe trifft. Die Umrechnung von dort auf Ganzkörperbelastung wäre
ähnlich absurd wie die Umrechnung der auf den Hinterkopf konzentrierten Energie eines Hammerschlages in eine Ganzkörperverteilung - mit der Schlußfolgerung, daß diese nur einen kaum spürbaren Druck pro Quadratzentimeter bedeutet und daher keinem Menschen etwas schaden könne.
Wenn somit die natürliche Strahlung um den Faktor 3 oder 4 schwankt, ist dies also beileibe nicht gleichzusetzen mit einer ebenso hohen Schwankung nach Auftauchen radioaktiver Materie. Und wenn vom Bayerischen Umweltministerium die Auskunft kommt, daß am 6. Mai der Wert der gemessenen Ganzkörperexposition innerhalb des Schwankungsbereichs der natürlichen Umgebungsstrahlung liege und gesundheitlich unbedenklich sei und daß »ein Umzug von München nach Garmisch über das Jahr hinweg die gleiche Wirkung« hätte, so ist daraus ein erhebliches Informationsdefizit zu erkennen. Denn hier ändert sich praktisch nur die externe Strahlenbelastung. Der Gehalt an inkorporierten Stoffen z.B. von Kalium-40, ändert sich dadurch um keinen Deut. Einem Ministerium, dessen Pressesprecher solche Interpretationen herausgibt, muß man die Kompetenz zum Thema Radioaktivität leider absprechen. Oder auch das Vertrauen."Denn sich in dieser Situation ausschließlich auf die Darstellungsweisen und Versicherungen der Kerenergielobby zu verlasssen, hieße ja wohl, den Bock zum Gärtner machen.
3. Was bedeuten die Halbwertszeiten und die unterschiedlichen Strahlenarten?
Obwohl es eigentlich aus dem Begriff hervorgeht, sei doch noch einmal betont, daß die physikalische Halbwertszeit, die durch die individuelle Zerfallskonstante eines radioaktiven Elements bestimmt wird und z.B. beim Caesium-137 dreißig Jahre, beim Jod-131 acht Tage beträgt (beim Jod-129 aber z.B. 15 Millionen Jahre - beide zerfallen zu einem stabilen Edelgas), oft mit einem Erlöschen der Radioaktivität verwechselt wird, obwohl diese sich lediglich halbiert hat. So sinkt sie selbst beim Jod-131 erst in 10 mal 8 Tagen, also in rund drei Monaten auf ein Tausendstel der Anfangsaktivität. Die biologische Halbwertszeit, die gänzlich unabhängig von der physikalischen ist, richtet sich nach der Verweildauer im Organismus. Beim Jod liegt sie (bei Einbau in die Schilddrüse) um sechs Monate herum, beim Caesium um 100 Tage, beim Strontium um viele Jahre. Sie hängt jedoch nicht nur von der Art des Nuklids ab, sondern auch von der chemisehen Form, in der es vorliegt. Außerdem ist sie keine Konstante, sondern schwankt je nach Stoffwechsel und Mineralhaushält des betreffenden Menschen. Deshalb kann auch die biologische Halbwertszeit von Jod-131 Z.B. durch Zugaben von normalem Jod verkürzt werden.
Diese Schwankungsbreite ist andererseits mit ein Grund dafür, daß es keine generell gültige Umrechnung der Gesamtemission (Becquerel) in die Gesamt-Immission (rem/Jahr),
d.h. in die Wirkung auf den Menschen gibt. Diese ist für jede Strahlenart und jedes Isotop und jede Art der Aufnahme anders, so daß sich die Umrechnungsfaktoren gewaltig unterscheiden.
Darüber hinaus sind diese Umrechnungsfaktoren (Dosisfaktoren) nicht nur für jedes Nuklid unterschiedlich (aufgrund seines individuellen Energiespektrums, seiner physikalischen und biologischen Halbwertszeit), sondern auch für die Art und Weise, wie es vereinnahmt wird. Somit existieren für die Bestrahlung von außen, für Ingestion (z. B. Essen und Trinken) und für Inhalation noch einmal völlig verschiedene Umrechnungsfaktoren für den rem-Wert, die sich z.T. um mehrere Zehnerpotenzen unterscheiden (vergleiche hierzu Tabelle2).
Schließlich hat, wie schon angedeutet, auch noch jede Strahlung, je nach der chemischen Form, in der das betreffende Nuklid vorliegt, und je nach seiner Mikroverteilung im
Körper sowie je nach Alter, Geschlecht, bisheriger Strahlenbelastung und Gesundheitsverfassung der betroffenen Person noch einmal unterschiedliche biologische Wirkungen, die ebensowenig in die üblichen Berechnungen einfließen wie die Anreicherungsmöglichkeit über die Nahrungskette. In vielen Fällen wird jedoch so getan, als ob es einen allgemeinen Umrechnungsfaktor von Strahlung in Strahlenbelastung gäbe, oder es wird nur der Dosisfaktor für äußere Strahlung in Anrechnung gebracht, da dieser bei gleichen Becquerel-Werten natürlich die geringste Belastung ergibt. Die so gegenüber unabhängigen Meßergebnissen weit niedrigeren offiziellen Werte glaubt man damit rechtfertigen zu können, daß Beta-Strahlen ja nicht einmal durch die Haut dringen würden, man sie also vernachlässigen könne. Logischerweise gilt dies nur für äußere Strahlung, aber nicht im vorliegenden Fall, wo wir die Strahlenquelle selber in den Körper aufnehmen können (siehe hierzu auch das folgende Kapitel).
Die Tatsache, daß manche Strahlenarten, wie Alpha-Strahlen und schwache (d.h. energiearme) Beta-Strahlen nicht einmal durch ein Blatt Papier dringen, bedeutet weiterhin, daß sie mit den üblichen Strahlenmeßgeräten schon gar nicht erst erfaßt werden (vgl. hierzu auch Abb. l). Wenn jedoch z.B. der aus einem Reaktor entwichene radioaktive Wasserstoff (das sogenannte Tritium mit seiner extrem schwachen Beta-Strahlung) und damit die Strahlenquelle selber in den Körper gewandert ist, sich dort in eine sich teilende Zelle einbaut kann er trotz seiner geringen Strahlenreichweite sehr wohl eine genetische Veränderung erzeugen, und zwar schon mit Mengen, die von außen nicht meßbar sind.
Auf diese Weise können sich im Organismus radioaktive Stoffe mit schwacher Reichweite anreichern und dort jahrelang vor sich hinstrahlen, die Erbsubstanz verändern, Sterilität und krebsartiges Wachstum auslösen, ohne daß dies mit einem Meßgerät von außen je feststellbar wäre.
Außer dem am meisten gemessenen und inzwischen jedermann bekannten Fallout von Jod-131 und Caesium-134/137 konnten noch gut 200 weitere Stoffe aus dem russischen Reaktor zu uns gelangen, davon vielleicht 10 in Mengen von über einem Prozent. Mehrere davon, wie z.B. das sich in Knochen anreichernde Strontium-90 (ein reiner Beta-Strahler) sind jedoch mit den üblichen Meßgeräten (z. B. GeigerZähler, Gamma-Spektroskop) aus den obigen Gründen nicht ohne weiteres erfaßbar oder ihre Strahlung ist wie beim radioaktiven Kohlenstoff (C-14) und Wasserstoff (H-3) so energiearm, daß sie nicht einmal durch das Folienfenster der Meßgerate dringt. Solange diese Stoffe nur von außen wirken, sind sie relativ harmlos, da ihre Strahlung, wie gesagt, auch nicht durch die Haut dringt. Einmal in den Körper gelangt, richten jedoch auch sie dort genauso verheerende Zellschäden an wie andere.
Nun taucht immer wieder die Frage auf, wieso es denn dann eine Strahlentherapie gibt, mit der ja schließlich auch geheilt wird? Natürlich werden in der Medizin, ganz abgesehen von Röntgenaufnahmen, auch therapeutische Bestrahlungen z. B. von Krebsgeschwülsten vorgenommen und gelegentlich auch radioaktive Isotope zu Diagnosezwecken in den Körper gebracht, z.B. um mit Jod-131 den hormonellen Stoffwechsel der Schilddrüse zu verfolgen. Dies alles geschieht jedoch immer nur entweder mit äußerer Bestrahlung (die mit dem Abschalten des Gerätes aufhört), bzw. bei Bestrahlung von innen mit abgekapselten Strahlenquellen, die anschließend wieder aus dem Körper entfernt werden, oder, zum Zwecke einer Diagnose, mit genau dosierten Isotopen geringer Halbwertszeit. Vor allem aber geschieht es nicht mit gesunden, sondern mit kranken Menschen - unter Abwägung des Strahlenrisikos gegenüber dem Risiko der vorliegenden Krankheit. Das schließt natürlich nicht aus, daß dieses Abwägen bei manchen Nuklearmedizinern oft sehr einseitig zugunsten der Strahlendosis ausfällt (vgl. auch Kap. IX).
4. Warum soll man einerseits Vorsichtsmaßnahmen treffen, obgleich es andererseits heißt, daß eine gesundheitliche Gefährdung bei diesen geringen Dosen nicht vorliege?
Daß man sich in der biologischen Wirkung geringer Strahlendosen und auch solcher mit geringer Reichweite keineswegs so einig ist, wie es amtlicherseits stets betont wird, zeigt die immer wieder auftauchende Frage, warum man Vorsichtsmaßnahmen treffen solle, obwohl doch betont worden sei, daß wegen der geringfügigen Belastung zu keinem Zeitpunkt eine gesundheitliche Gefährdung bei der Bevölkerung vorgelegen habe. Zunächst einmal heißt es von offizieller Seite wörtlich, daß es keine akute Gefährdung gebe. In der Tat wird niemand sich erbrechen, Verbrennungen erleiden oder unmittelbare Veränderungen im Blutbild aufweisen. Die mögliche langfristige Gefährdung, also Schädigung des Immunsystems, Krebsdisposition, Leukämieneigung, Sterilität, genetische Schäden usw., wird dabei übergangen. Doch sie ist selbst mit kleinsten Dosen gegeben.
Da diese von den gängigen rem-Umrechnungen stark abweichenden Wirkungen im niedrigen Dosisbereich in den amtlichen Verlautbarungen einfach übergangen oder sogar rundweg bestritten werden, obwohl sie durch zahlreiche Arbeiten aus der internationalen Fachliteratur eindeutig belegt sind (was natürlich die Basis der ganzen derzeitigen Beschwichtigungspolitik erschüttert), wird darüber noch gesondert in Kapitel VII berichtet. Hier soll jedoch noch auf einen weiteren Umstand hingewiesen werden, nämlich daß die amtliche Aussage selbst über die akute Ungefährlichkeit schwacher radioaktiver Dosen nicht generell stimmt.
Während beim Erwachsenen eine Schädigung des genetisehen Materials erst nach einigen Jahren Krebs auslösen kann, kann sie bei einem Embryo möglicherweise schon unmittelbar zu einer Mißbildung, Mißgeburt oder Fehlgeburt führen - ähnlich wie beim Contergan von der akuten Ungefährlichkeit für die Mutter ja keineswegs auf eine akute Ungefährlichkeit für das Kind geschlossen werden durfte, obwohl genügend Experten dies vorher berechnet hatten. So schreibt die Schweizer Strahlenbiologin FRITZ-NIGGLI, daß »bestimmte somatische Störungen selbst durch kleine Strahlenmengen induziert werden. Zumindest für die Tumorinduktion nach Bestrahlung des Kindes in utero und in den ersten Lebensjahren scheint keine Dosis minima, d.h. keine ungefährliche Dosis zu bestehen. Schon Strahlenmengen im Bereich von 1000 Millirem erhöhten signifikant das Krebsriskio. Ebenso stellten sich nach Bestrahlung in der empfindlichen Phase der Organogenese schon mit Dosen, die unter fünf rem liegen, Anomalien ein.«
Da schon die Röntgenaufnahme einer Schwangeren, bei der einige hundert Millirem auf den Uterus treffen, als ärztlicher Kunstfehler eingestuft wird, und man über die selbst mit viel kleineren Dosen vielleicht weit riskantere Wirkung inkorporierter Strahlung nicht viel weiß, ist es nicht ausgeschlossen, daß zwar die Mutter keinerlei akute Schäden davonträgt, die Mißbildungsrate jedoch ansteigt. Trotzdem muß man gerade hier vor Panikreaktionen warnen. Denn auch wenn die ohnehin schon bestehende bisherige Mißbildungsrate durch den Reaktorunfall stark erhöht würde, ist sie statistisch gesehen natürlich immer noch so klein bzw. die Chance, ein gesundes Kind zu bekommen, so groß, daß ein Abbruch der Schwangerschaft bloß aus diesem Grunde nicht gerechtfertigt ist.
Was die langfristige Gefährdung betrifft, so ist übrigens in der Bevölkerung viel zu wenig bekannt, daß sich die Wirkung aller im Laufe eines Lebens empfangenen Strahlung addiert. Daher ist man ja auch grundsätzlich bestrebt, jede überflüssige Strahlung, wie etwa auch unnötige Röntgenaufnahmen. zu vermeiden. Im Unterschied zur Strahlung einer Röntgenaufnähme (die eben nur solange im Körper existiert, wie die Aufnahme dauert) werden uns jedoch die langlebigen Isotope wie Caesium-137, Ruthenium-106, Strontium-90, Jod-129, Cer-144, Krypton-85 und wahrscheinlich auch die Kohlenstoff- und Wasserstoff-Isotope C-14 und H-3, deren Anteil rein meßtechnisch schwierig zu erfassen ist (beide mögen zudem schon unmittelbar nach dem Fallout in die Pflanzen gewandert sein), und einige weitere aus dem Unfall in Tschernobyl stammende Strahler ein Leben lang begleiten. Wer schon älter ist, wird die Spätschäden nicht mehr zu spüren bekommen. Je jünger ein Mensch jetzt noch ist, um so eher wird er zu denen zählen, die davon betroffen sind.
Viel mehr kann man derzeit kaum mit Sicherheit sagen. Denn leider ist es so, daß sich weder aus den völlig anders gelagerten akuten Strahlenschäden der Hiroshima- und Nagasakibomben noch aus den Atomtest-Fallouts der 60er Jahre sichere Rückschlüsse auf die grundlegend unterschiedliche derzeitige Situation ziehen lassen. Wir sollten ehrlich zugeben, daß es für die Folgewirkung eines Fallouts aus einem Reaktorunglück keine Feldversuche gibt und daß man deshalb alle nur möglichen Vorsorge- und Vorsichtsmaßnahmen treffen sollte — ohne nun gleich in Panik zu verfallen, denn dazu gibt es keinen Grund -, um wenigstens einigermaßen auf der sicheren Seite zu sein.
5. Was soll man tun, um sich gegen die durch Strahlung erhöhte Krebs- und Leukämieanfälligkeit zu wappnen?
Duschen nach Regenfällen, nach Bodenberührung und Im-Gras-Liegen, Verzicht auf Frischmilch und Blattgemüse, Verbleiben in Innenräumen für Kleinkinder und Schwangere,
Abdecken von Sandkästen, Abspritzen von Straßen und Plätzen durch die Feuerwehr, Abernten verseuchter Weideflächen, das Heu zu Sondermüll erklären - all dies wären wenigstens einige Hilfsmaßnahmen der ersten Tage gewesen, wenn die Bevölkerung darüber aufgeklärt worden wäre. Dies ist nicht erfolgt - und dadurch haben sich unsere Behörden im Hinblick auf unsere Gesundheitsvorsorge schuldig gemacht. Einige Mitbürger haben wegen dieser Unterlassung Klage erhoben.
Die Chance ist vertan, aber wie auch immer, wir müssen uns damit abfinden, daß wir ab jetzt in einem erhöhten Strahlenfeld leben, das uns innen und außen umgibt und dem wir uns nicht entziehen können. Wenn wir dies akzeptieren und einige >rem-Spartips< anwenden, wie sie inzwischen in mehreren Büchern und in einer Mappe des BUND zusammengestellt sind, so ist das einzige, was wir darüber hinaus für unsere Gesunderhaltung tun können, das, was man normalerweise auch schon tun sollte: eine vernünftige Lebensweise mit frischer Luft und Bewegung, eine Ernährung mit Vollwertkost ohne belastende Giftstoffe (Merke: Wer halb so viel ißt wie bisher, lebt nicht nur gesünder, sondern bekommt auch nur halb so viel Becquerel ab), nicht oder weniger rauchen, da auch beim Rauchen radioaktive Stoffe, nicht zuletzt das natürliche Radon-222 absorbiert werden und die Lungenverweilzeit (ähnlich wie von anderen Schadstoffen bekannt) erhöht wird, weiterhin eine Stärkung der körpereigenen Abwehr durch Abhärtung, Gymnastik, Sauna, Yoga und — last not least - Vermeidung von psychischem Streß. In diesem Moment kann man, wie in Tierversuchen bewiesen, auch höhere Strahlendosen verkraften, so wie ja auch bei dem einen Menschen starkes Rauchen sehr bald, bei dem anderen nie zu Lungenkrebs führen kann. Denn das wirkliche Strahlenrisiko ist, wenn man es überhaupt kennen würde, nur statistisch gesehen eine feste Zahl. Individuell ist es so verschieden wie alles oder nichts. Es hängt vom Alter, von Verfassung und
Konstitution und der bisherigen Belastung mit Schadstoffen und Strahlen ebenso ab wie vom Hormonhaushalt und der Stärke des Immunsystems.
Wie soll man jedoch die für den dafür so nötigen Streßabbau erforderliche lebensbejahende Einstellung erreichen, solange man in Unsicherheit vor weiteren radioaktiven Unfällen und Belastungen lebt? Belastungen, die Z.B. eine davorliegende jahrelange vernünftige Lebensweise mit Vollwertkost. Sauna, Abhärtung, Alkohol- und Nikotinverzicht etc. mit einern einzigen Schlag zunichte machen können? Die Antwort kann nur heißen: Angstabbau durch Abbau von Unsicherheit. Solange noch irgendwo in der Welt ein Kernreaktor arbeitet, wird sich dies in Zukunft auf unsere ganze Lebensweise und unser psychosoziales Verhalten negativ auswirken. Am schlimmsten wirkte in dieser Hinsicht die nur allzu durchsichtige Beschwichtigungspolitik unserer Behörden, die der zynischen Vertuschungstaktik der sowjetischen Behörden nur graduell - dank unserer demokratischen Verfassung -, nicht aber prinzipiell nachsteht. Wir sind in der Tat mit einer Desinformation konfrontiert.
6. Was ist mit den Lebensmitteln los? Wann und me lange sind sie überhaupt verseucht?
Hier gilt insbesondere das, was für den entscheidenden Unterschied zwischen äußerer und innerer Strahlung gesagt wurde. Ein bestrahltes Lebensmittel, das vorübergehend mit einer Strahlung, aber nicht mit einer Strahlenquelle (also den radioaktiven Teilchen selber) in Berührung kam, ist hinterher genauso >sauber< wie vorher, es strahlt dann nicht etwa selber (abgesehen von der chemischen und biochemischen Denaturierung durch die zwar z.T. sterilisierende, aber die Konsistenz des Lebensmittels verändernde, weil ionisierende Bestrahlung). Anders ist es auch hier, wenn unsere Nahrungsquellen mit der Radioaktivität aus einem Kernkraftwerk in Berührung kommen, die eben immer aus radioaktiven Teilchen besteht.
Zwar wird auch die aus Luft, Staub oder Regen auf Pflanzen und Tieren abgelagerte Radioaktivität noch prinzipieU abwaschbar sein. Genauso von der menschlichen Haut und im
Grunde auch von jedem abwaschbaren toten Gegenstand. Sobald jedoch der radioaktive Stoff durch die Spaltöffnungen ins Blattinnere eingedrungen oder über die Photosynthese und andere Wachstumsvorgänge in die Pflanzen eingebaut ist, oder von Kühen auf der Weide mitgefressen wird und so über die Nahrung, das Fleisch oder die Milch in unser Inneres gelangt, wird die Strahlung dort fortgesetzt, bis entweder der Stoff wieder ausgeschieden ist (hier spricht man, wie erwähnt, von der biologischen Halbwertszeit einer Substanz, die man z.B. beim radioaktiven Jod durch Verdünnung mit normalem Jod - allerdings unter starker Belastung des Organismus beschleunigen kann) oder bis eben bei kurzen physikalischen Halbwertszeiten auch die Radioaktivität abgeklungen ist.
Wenn jedoch einmal der Boden verseucht ist - und seine Radioaktivität wird im Laufe der Zeit noch weiter ansteigen (vgl. die Kurven in Abb. 2), wird alles, was darauf wächst, mehr oder weniger große Mengen radioaktiver Substanzen aufnehmen. Diejenigen mit kurzer Strahlenreichweite sind dann auch hier von außen nicht mehr meßbar (dazu müßte die Pflanze erst zerrieben, aufgelöst und mit einer Szintillationsflüssigkeit oder im Durchflußzähler gemessen werden). Sie werden dann teilweise vom tierischen und menschlichen Organismus festgehalten, teilweise mit den Fäkalien ausgeschieden, von wo sie wieder auf den Acker oder in die Klärschlämme wandern, die in der Tat inzwischen schon stark radioaktiv verseucht sind.
Vielleicht muß man auch folgenden wesentlichen Punkt noch einmal deutlich herausstellen: Tote Gegenstände haben keinen Stoffwechsel. Sie bauen, wenn nicht gerade eine chemische Reaktion stattfindet, auch keine radioaktiven Stoffe in ihr Inneres ein. Für sie ist daher der Unterschied zwischen materieloser Strahlung und strahlenden Materieteilchen nicht groß. Hat die Strahlung aufgehört oder ist der radioaktive Staub abgewaschen, so ist alles wieder beim alten.
Lebewesen haben dagegen einen Stoffwechsel. Sie können die strahlenden Teilchen in ihr Inneres einbauen und somit selber radioaktiv, also zu einer Strahlenquelle werden. Und weil nur sie einen Stoffwechsel haben, sind es leider auch ausgerechnet die Lebewesen, die auf diese Weise radioaktive Stoffe zu sehr hohen Konzentrationen anreichern können (siehe Tabelle l). Und - weiterer >Nachteil< der Lebewesen - weil ihr Stoffwechsel durch Informationsübertragung aus den Genen der Zellkerne präzise gesteuert wird, sind sie gegenüber radioaktiver Strahlung, insbesondere wenn diese in ihrem Innern lokalisiert ist und dort die genetische Information verändert, noch einmal ganz besonders empfindlich.
Denn dort trifft sie, wie schon betont, nicht etwa mal auf die eine, mal auf die andere unserer 100 Milliarden Körperzellen (so wie bei der natürlichen äußeren Strahlenbelastung) womit unser genetischer Reparaturmechanismus offenbar fertig wird -, sondern die inkorporierte Strahlung bombardiert dort, wo sie sitzt, bevorzugt die umgebende Zellgruppe, wo sie auch mit schwächsten Energien deren Membranen schädigen mag und das Erbmaterial dann irreversibel verändern kann (vgl. hierzu auch den in Kapitel VII erwähnten PETKAU-Effekt). Die genetische Informationsübertragung wird gestört und kann so den ganzen Stoffwechsel durcheinanderbringen oder fehlleiten - all dies weit unterhalb von Strahlendosen, wie sie etwa eine akute Verbrennung, Haarausfall oder eine Verschiebung des Blutbildes verursachen.
7. Was sind die Einsichten und die Konsequenzen für die Zukunft?
- Als erstes müssen wir uns wohl endgültig klarmachen, daß Kernreaktoren nie sicher sind. Es zeugt von einem menschenverachtenden technischen Hochmut zu behaupten, daß so etwas wie in Tschernobyl bei uns nicht passieren könnte. (Die Problematik der Risikoberechnungen ist in Kapitel X noch gesondert behandelt.)
- Zweitens ist die Reaktortechnik nicht nur aus diesem Grund wohl einer der unintelligentesten Wege, Energie zu machen, auf die die Menschheit je kam. Kernenergie als >High-technology< und deshalb als Symbol des Fortschritts zu bezeichnen, wie dies falsch beratene Politiker auch jetzt noch tun, liegt ohnehin völlig daneben, da es sich gerade bei der Kernenergie um eine sehr grobe und angesichts der heutigen Erkenntnisse altmodische Technologie handelt, die mit einem gewaltigen technischen
Aufwand letztlich über das Prinzip der Dampfmaschine Strom erzeugt! siehe Abbildung 2
- Man sollte sich daher von den interessierten Betreibern, Konstrukteuren und beteiligten Wissenschaftlern nicht länger weismachen lassen, wie fortschrittlich, sicher und uweltfreundlich das Ganze sei. Man sollte sich damit abfinden, daß diese Technik weder von der langfristigen Materialbeanspruchung, noch von den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Auswirkungen her beherrschbar sein wird und daher mit einem ins Uferlose steigenden Aufwand an Kapital, Sicherheitsvorkehrungen, staatlicher Kontrolle, Entsorgung usw. betrieben werden muß, der über kurz oder lang jede Volkswirtschaft ruiniert.
- Grundsätzlich stehen also die Nachteile der atomaren Energiegewinnung in überhaupt keinem Verhältnis zu den Möglichkeiten einer auch auf andere Weise lösbaren
Energieversorgung (worauf ich in den Kapitehi XV und XVI noch eingehen werde), zumal inzwischen längst klar ist, daß - auch ohne größeren Unfall - nichts teurer ist als die Kernenergie, wenn man die in Kürze auf uns zukommenden Milliardenkosten der Abwrackung und der Endlagerung mit einbezieht, plötzlich auftretende Schadenersatzansprüche gar nicht gerechnet.
- Auch wenn kein weiterer Super-GAU passiert (was jedoch morgen wieder der Fall sein kann, da, wie schon hundertfach - und nicht nur an der Kernenergie - bewiesen, alle Wahrscheinlichkeitsrechnungen nur eine scheinbare Sicherheit vorgaukeln), werden wir über kurz oder lang mit weiteren radioaktiven Belastungen zu tun haben. Insbesondere wenn wir uns auf das unnötige Abenteuer einer Wiederaufarbeitungsanlage einlassen, die ja das Problem der Endlagerung in keiner Weise löst, sondern im Gegenteil einen zusätzlichen Zwischenschritt einschaltet, bei dem an Radioaktivität schon beim Normalbetrieb ein Vielfaches dessen abgegeben wird, was aus allen daran angeschlossenen Kernkraftwerken selbst zusammenkommt. Ein entsprechendes Statement gegen den Bau von Wiederaufarbeitungsanlagen habe ich als Mitglied des Sachverständigenkreises des Bayerischen Umweltministeriums schon vor einiger Zeit dort eingebracht. Es ist in Kapitel XIII in vollem Wortlaut wiedergegeben.
- Wie man in den letzten Tagen bei den Berichten über die Tschernobyl-Katastrophe und ihre Folgen beobachten konnte, hat sich auch in diesem Fall wieder einmal die
Unzulänglichkeit der üblichen Bewertungsverfahren für Großprojekte erwiesen, die grundsätzlich die über den technischen Aspekt hinausgehenden Vernetzungen und Rückwirkungen - selbst auf der ökonomischen Ebene außer acht lassen. Die Hilflosigkeit der Experten angesichts der Komplexität der Situation war bezeichnend. Jeder konnte nur über sein Teilgebiet Auskunft geben, aber wie sich die Ereignisse im Gesamtsystem auswirken und aufschaukeln — bis hin zu den psychosozialen Folgen — lag außerhalb der gängigen Zuständigkeiten.
- Die unvorhersehbare und unberechenbare Ausbreitung und Verteilung der aus dem vorliegenden Reaktorunfall stammenden Radioaktivität und die Bestürzung über die vielfältigen Folgen für unsere Gesundheit, unser tägliches Leben und unsere Wirtschaft zeigen, daß man sich — zufrieden mit fachbezogenen Einzelexpertisen - mit der vielfältigen Vernetzung eines solchen Vorgangs nie beschäftigt hat. Ich habe in der Einleitung bereits erwähnt. wie ich mir mit meinem Energiebilderbuch Das (faule) Ei des Koltimbus, in dem ich diese Zusammenhänge und ihre vernetzten Folgen lange vor Tschernobyl darstellte, seinerzeit den wütenden Protest der Atomlobby eingehandelt habe. Vielleicht sieht inzwischen auch diese die schon damals aufgezeigte Vernetzung heute mit anderen Augen.
- Was wir in Zukunft brauchen, sind daher Experten für Systemzusammenhänge (und entsprechende Ausbildungsgänge!), die die Rolle einzelner Technologien und ihre Systemverträglichkeit untersuchen und bewerten können. In der UNESCO-Studie Ballungsgebiete in der Krise und dem darauf basierenden >Sensitivitätsmodell< haben wir z.B. ein dazu geeignetes Instrumentarium vorgestellt. Daß sich daraus ganz andere als die gewohnten Antworten ergeben, ist in den Kap. XII und XV weiter ausgeführt.
- Was der einzelne Bürger angesichts dieser Fakten tun kann und muß, ist wenig und ist viel. Wenig, was die aktueile Strahlenbelastung angeht, viel, was unsere Entscheidungen für die Zukunft betrifft. Das >wenig< auf der einen Seite erzwingt jedoch nachgerade das >viel< auf der anderen Seite. Da wir uns, wie oben schon erwähnt, gegenüber der noch lange bestehenden Radioaktivität im Prinzip nur minimal schützen können und somit die Konsequenzen der erhöhten Strahlenbelastung für uns, unsere Kinder und Enkel in Kauf nehmen müssen (Die Böden werden jetzt schon für hundert Jahre verseucht sein und die dort abgelagerten radioaktiven Stoffe in den biologischen Kreislauf eintreten.), muß der Druck der Bevölkerung dahin gehen, daß zu den bestehenden Belastungen keine neuen mehr hinzukommen. Nur das bedeutet wirkliche Vorbeugung gegen jede weitere (weil mit jedem Fall sich summierende und damit von Mal zu Mal schlimmere) Gefährdung.
- Das heißt aber nichts anderes, als daß wir Bürger einen zügigen Ausstieg aus der Kernenergienutzung und eine Umkehr der ganzen fehlgelaufenen Energiepolitik verlangen und eine deutliche Hinwendung zu den auch volkswirtschaftlich weit interessanteren, aber Z.T. bewußt vernachlässigten dezentralen und regenerativen Energien erzwingen müssen. Die bisherige Irreführung der Bevölkerung durch eine Reihe unwissender Politiker, ein paar prestigesüchtiger Wissenschaftler, kurzfristig gewinnorientierter Manager, von der Lobby korrumpierter Beamte, machthungriger Gigantomanen wird ohnehin nicht mehr lange funktionieren. Immer weniger Menschen das haben die letzten Tage und Wochen gezeigt - sind noch bereit, irgendwelchen Verlautbarungen und Beteuerungen nur deshalb Glauben zu schenken, weil sie aus offiziellen Quellen stammen. Auch darauf soll später noch einmal eingegangen werden.
- Weiterhin müssen wir nun erst recht darauf dringen, daß alle übrigen Belastungen der Luft, des Bodens und des Wassers, die ja gesundheitlich in die gleiche Kerbe hauen, radikal zurückgehen - wozu auch Medikamente wie Cortison-, Hormon- und Antibiotikapräparate zählen, die eine Strahlenschädigung nachweislich verstärken -, um so vielleicht die Gesamtbelastung der Umwelt und unseres Organismus', einigermaßen in Grenzen zu halten.
- Daraus ergibt sich, daß es höchste Zeit ist, den Begriff >Fortschritt< neu zu definieren und das ungeheure Potential an Ingeniosität und Kreativität - auch unserer Techniker - in eine neue Richtung zu lenken: die Weichen zu stellen für einen Fortschritt, der auf Technologien und Wirtschaftsformen beruht, die nicht gegen die
Natur und den Menschen, sondern im Einklang mit ihnen arbeiten, so wie die übrige Natur selbst dies ja auch seit vielen Millionen Jahren mit Erfolg tut. Im einzelnen habe
ich die Möglichkeiten und Chancen eines solchen Weges vom technokratischen ins kybernetische Zeitalter in dem Buch Neuland des Denkens^ anhand vieler konkreter Beispiele beschrieben.
- Man wird natürlich sagen, daß wir uns auch dann immer noch einem hohen Gefahrenpotential durch Kernkraftwerke um uns herum, vor allem von Seiten Frankreichs,
gegenübersehen. Und sicher wird man auch wie eh und je wieder ins Spiel bringen, daß diese Länder somit durch ihre Kernenergie wirtschaftliche Vorteile haben, die auf unsere Kosten gehen.
- Die Realität wird jedoch anders aussehen. Denn ganz abgesehen davon, daß Österreich, Dänemark und andere
Länder ohne Kernenergie wirtschaftlich durchaus nicht zugrunde gegangen sind und ausgerechnet die EDF,
Frankreichs staatliche Elektrizitätsgesellschaft, mit über
220 Milliarden (!) Franc verschuldet ist, wird die Zukunft zeigen, daß auf Grund der weiter oben genannten Kosten und Risiken wohl gerade die Wirtschaft derjenigen Länder, die rechtzeitig auf andere Energieversorgungsstrategien umgeschaltet haben, weit stabiler sein wird.
- Am gleichen Tag, an dem in der Bundesrepublik - so als ob nichts geschehen wäre — der Generalunternehmervertrag für Wackersdorf unterschrieben wurde, zeigten andere Länder bereits die erste Reaktion auf Tschernobyl: Holland hat sein Kernkraftprogramm vorläufig gestoppt. Schweden erwägt ebenfalls den Ausstieg, und Jugoslawien hat auf den Bau seines zweiten Kernkraftwerkes verziehtet. Gewiß, die Folgen aus Katastrophen haben auch kernkraftfreie Länder zu tragen. Da aber nicht anzunehmen ist, daß dies der letzte GAU war, den wir erleben, werden sich nach und nach weitere Länder anschließen.
- Ist es denn für all dies nicht schon zu spät, und sind wir nicht bereits auf die Kernenergie angewiesen? Durchaus nicht. Wir haben noch die Zeit und - wenn wir Z.B. auf so finanzielle Abenteuer wie den Bau der WAA verzichten - auch das Kapital und damit die Chance, uns technologisch zu einem zukunftsorientierten Land zu entwickeln. Die Befürchtung, daß ohne Kernenergie die Lichter ausgehen, ist absurd und leicht widerlegbar. Durch Abschaltung und Einmottung der bestehenden Kernkraftwerke würde unsere derzeitige Stromerzeugungsleistung von insgesamt 80000 Megawatt zwar auf 63000 Megawatt sinken. Damit hätten wir aber immer noch einen bedeutenden Überschuß. Denn gebraucht werden zur Zeit im Winter vielleicht 54000 Megawatt, im Sommer etwa 44000 Megawatt. Und weitere Reserven sind ohnehin genug da. Allein eine Änderung der Energiewirtschaftsgesetze würde durch die dann mögliche Rückspeisung von Industrieenergie ins Netz mit wahrscheinlich über 20000 Megawatt daraus gezogener Stromleistung die derzeitige Leistung der Kernkraftwerke von 17000 Megawatt glatt in den Schatten stellen, von dem zusätzlichen Beitrag moderner regenerativer Energien ganz zu schweigen (siehe auch Kapitel XVI).
Die Lichter gehen also durch eine Neubesinnung unseres Energiekurses gewiß nicht aus. Sie verlöschen eher, wenn wir die bisherige Politik weiterbetreiben.
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