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Frederic Vester: Eine neue Sicht der Wirklichkeit

  • Artikelnummer: 520072,7
  • Hergestellt von: Frederic Vester

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Frederic Vester: Die Kunst vernetzt zu Denken, Der neue Bericht an den Club of Rome S.100-106

6 Eine neue Sicht der Wirklichkeit

Wenn es unser Ziel ist, ein komplexes System - handle es sich um ein
Unternehmen, eine Stadt, eine Region, ein Verkehrs- oder Energiesystem - in seinem Verhalten und seiner Lebensfähigkeit so zu verstehen,
dass sich daraus sinnvolle Strategien entwickeln lassen, dann verlangt
dies in zweierlei Hinsicht ein Umsteuern in unserer Entscheidungsfindüng: Erstens sollten wir damit aufhören, mit Trendhochrechnungen und Expertenbefragungen, die auf Vorgänge außerhalb des Systems
gerichtet sind, die Zukunft voraussagen zu wollen, und zweitens sollten wir davon Abstand nehmen, bestimmte Probleme isoliert anzugehen und uns dadurch eine Untersuchung des dazugehörigen Systems zu sparen. Vielmehr sollten wir versuchen, in diesem System Konstellationen zu schaffen, unter denen die betreffenden Probleme möglichst gar nicht erst auftreten. Um den dazu nötigen Einstieg in das Wesen eines
Systems zu finden, müssen wir zunächst einmal unsere Sichtweise »umstülpen«. Die Kunst des vernetzten Denkens beginnt sozusagen
bereits mit dem Blickwinkel, aus dem wir die Welt betrachten.
Normalerweise steht man im Inneren des betreffenden Systems und
blickt nach draußen. Man richtet sich nach dem, was dort geschieht.
Was macht der Nachbar, was macht die Konkurrenz, wie steht der
Dollar, was tun die Japaner, wie wird sich der Markt entwickeln usw.
Die Antwort auf diese Fragen beschafft man sich durch Expertenbefragungen, Marktanalysen und Hochrechnungen. Über sein eigenes System erfährt man dadurch nichts (über die anderen Dinge, nebenbei
gesagt, meist auch nichts Verlässliches, man denke nur an die jährlichen
Wachstums- und Wirtschaftsprognosen der »großen« Wirtschaftsforschungsinstitute).
Bei einer systemischen Sichtweise dagegen steigt man aus dem System
heraus, schaut von außen nach innen und untersucht vor allem einmal
das eigene System und dessen Verhalten. Dabei stellt man ganz andere
Fragen: Wo sind die kritischen, wo die puffernden Bereiche, mit welchen Hebeln lässt sich das System steuern, mit welchen nicht, wie seine Flexibilität, seine Selbstregulation, seine Innovationskraft, wo liegen Symbiosemöglichkeiten, wo drohen Umkippeffekte usw. Auch dafür gibt es Analyse-Werkzeuge: Wirkungsgefüge, Einflussmatrizen, Policy-Tests, Simulationsmodelle. Schon die Art der Vorhersagen, an
denen man sich orientiert, fällt dann völlig anders aus. Die Prognosen richten sich endlich nicht mehr spekulativ nach außen - auf das Eintreten von erhofften oder befürchteten Ereignissen (auf das also, was für ein offenes komplexes System ohnehin nicht vorhersagbar ist) -, sondem nach innen auf das Verhaltensmuster des betrachteten Systems selbst: Wie reagiert es bei entsprechenden Ereignissen, wie robust und wie flexibel ist es, wie lässt sich sein Verhalten verbessern? Daraus ergibt sich dann eine systemische, nachhaltige Strategie, die nicht ausgedacht wirkt, sondern aus dem System heraus geftinden wurde. Weder Dogmen noch Parteiprogramme, sondern das System selbst gibt sie vor.
Damit die Unterschiede der beiden Sichtweisen auch visuell und haptisch demonstriert werden können, wurde von der Studiengruppe für Biologie und Umwelt ein »Umstülpwürfel« auf der Basis eines Escherschen Modells
konzipiert, der sich mit einigen wenigen Handgriffen zusammenbauen lässt.
Mit dem Umstülpen der Blickrichtung und den dabei erlangten Kenntnissen ergibt sich fast automatisch eine Fülle neuer Entscheidungshilfen und strategischer Hinweise. Denn die Strategie selbst richtet sich jetzt nicht mehr auf strategische
Unterziele wie etwa Jährliche Umsatzsteigerung, möglichst raschen return on investment oder darauf- einen "'moglichst hohen
Gewinn aus einem gegenwärtigen (oder erwarteten) Ereignis herauszuholen, sondern darauf, das Systemverhalten möglichst störungsstabil und fehlertolerant zu machen, was zwangsläufig auch wirtschaftliche Stabilität bedeutet - gesteigerte
Lebensfähigkeit durch höhere »kybernetische Reife«. Mit einem vernetzten Denken verlassen wir uns von vornherein nicht mehr auf isolierte Lösungen, sondern versuchen durch einen ganzheitlichen Ansatz möglichst »mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen«.
Leider bestimmen das lineare Denken und die daraus resultierenden
Fortschrittskriterien vielfach noch die Zielsetzungen der Entwicklungsabteilungen der Industrie. Im Sinne einer langfristigen Überlebensfähigkeit kann aber Fortschritt heute unmöglich noch länger
identisch sein mit Eigenschaften wie »mehr«, »schneller«, »größer«, »weiter«, die man mit dem Blick auf die Konkurrenz oder das andere
Land und unabhängig von ihrer Wirkung auf das eigene System mit
Fortschritt gleichsetzt. Mit dem Blick nach innen sind längst andere
Eigenschaften - etwa »schöner«, »kleiner«, »lustiger«, »umweltschonend«, »gesünder«, »flexibler«, »transparenter«, »selbstregulierend« zu Anzeichen wirklichen Fortschritts im Sinne eines nachhaltigen
Wirtschaftens geworden. Einer Produktinnovation muss daher eine
Innovation der Kriterien - zum Beispiel »kleiner und handlicher«, »leiser«, »gemütlicher«, »entstressend«, »dezentral«, »durchschaubarer« oder »selbstregulierend« - vorausgehen, damit jene neuen Produkte einen wirklichen Fortschritt gegenüber den bisherigen darstellen. So
dürfte mittlerweile klar sein, dass nach dem Ölschock von 1973 der
Zwang zum Energiesparen - also das Kriterium »weniger« - zu weit zukunftsträchtigeren Innovationen geführt hat als das'Streben nach lmmer mehr Energieerzeugung. Hier ist natürlich auch der Gesetzgeber aufgefordert, in Zukunft die gleiche flexible, über den TeUerrand
hinausschauende Haltung wie Unternehmer emzunehmen und sich
durch mutige Entscheidungen hervorzutun. Dass dies hier und da
toeits erkannt wird, stimmt hoffnungsvoll.

So präsentierte sich der
Verband Kommunaler Unternehnien (VKU) in einer ganzseitigen
Annonce mit dem Slogan »Wir sind die einzigen Unternehmen, die sich über weniger Konsum freuen.«
Hier lautet die klare Aussage: »Der günstigste Strom ist derjenige, der
gar nicht gebraucht wird.« So entsprechen mehr und mehr Entwicklungen - nicht nur im kommunalen Bereich, sondern auch in Konzernen - einer ganzheitlichen Philosophie und dem kybernetischen Denkansatz. Das Vertrauen wächst, dass wir die oft unüberwindlich erscheinenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme unserer Industriegesellschaft und diejenigen der Dritten Welt (die wir leider immer tiefer in unser ökologisches Dilemma mit hineinziehen) mithilfe vernetzter Strategien durchaus lösen können. Auch diesen Vorreitern ist klar geworden, dass wir dazu von unserer monokausalen Denkweise abkommen müssen. In einer von Michael STEINBRECHER verfassten Systemstudie der Daimler Chrysler AG Forschung, Gesellschaft und Technik heißt es dazu: »Angesichts der ausufernden Komplexität und des permanenten Wandels der gesellschaftlichen und ökonomisehen Rahmenbedingungen sind Unternehmen aufgefordert, nach neuen Denk- und Handlungsansätzen zu suchen, um auch in Zukunft erfolgreich am Markt agieren zu können. Denn es ist offensichtlich,
dass mit der herkömmlichen, technokratisch geprägten Art der Unternehmensführung, die eine kurzfristige Gewinnmaximierung als
Hauptziel hat, die Herausforderungen der Zukunft nicht zu meistern sind.« Zu den Anforderungen, die daraus an unternehmerisches Handeln erwachsen, heißt es weiter: »Anstatt kurzlebigen Entwicklungen oder Modetrends hinterherzulaufen, versucht ein systemisch geführtes Unternehmen, die Zusammenhänge und Abhängigkeiten des Gesamtsystems zu verstehen und bei seinen Entscheidungen zu berücksichtigen, um so eine langfristig orientierte und folgenbewusste HandlungsStrategie zu entwickeln.«

Statement: Verband Kommunater Unternehmen (VKU)
Wir sind die einzigen Unternehmen,
die sich über weniger Konsum freuen. Denn wir sind kein Konzern, der mit dem Verkauf von immer mehr Strom seinen Aktionären nur eine schöne Dividende auszahlt. Wir sind Dienstleistungspartner der Bürger,
denn wir, die »Stadtwerke«, gehören den Bürgern der betreffenden
Stadt. Hohe Wirtschaftlichkeit ist eines unserer Unternehmensziele aber vor dem Blick auf die Einnahmen steht bei uns die Verantwortung
für die Umwelt. Deshalb fördern wir das Energiesparen, setzen auf modernste Technik, z. B. Kraft-Wärme-Kopplung, und fördern erneuerbare Energien, die Nutzung von Sonne, Wasser und Wind. Die Zukunft
liegt nicht in immer mehr Größe und Macht ~ die verantwortbare
Zukunft wird vor Ort entschieden. Verantwortbare Zukunft ist dezentral.



Dieser Artikel wurde am Freitag, 08. April 2022 im Shop aufgenommen.

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