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Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit

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Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, gebundene Ausgabe

Ein Schwarzbuch über die Zukunft

Was treibt die Menschheit voran? Entwickelt sie sich von Niederem zu Höherem? Orientiert sich Fortschritt an Lehren aus der Geschichte? Ist Geschichte als Progression der und in der Freiheit zu begreifen?
Solche überkommenen Fragen und die korrespondierenden unpassenden Antworten blenden den Übergang von einer Generation zur nächsten aus, der zu Begin des 21. Jahrhunderts immer mehr gefährdet ist.
Mit dem Gelingen oder Scheitern dieses Übergangsstadiums, in welchem teilweise kriegerische und mörderische, teilweise die Population ganzer Kontinente auslöschende Szenarien dominieren, steht der Fortbestand der uns bekannten Zivilisation auf dem Spiel. Deshalb ist das neue Buch von Peter Sloterdijk eines von der äußerst pessimistischen Sorte: ein Schwarzbuch über kommende Generationen.
Denn da in der Moderne die Traditionsfäden chronisch reißen und immerfort neue Vektoren den Zug in Kommende bestimmen, wandeln sich die Individuen zu »Kindern ihrer Zeit«, Nachkommen »schlagen aus der Art«. Da moderne Elterngenerationen selbst meist schon zivilisatorisch labil antreten, gerät die Formung ihres Nachwuchses zu einem unbeendbaren Match zwischen potentiell schrecklichen Eltern und potentiell schrecklichen Kindern.


Leseprobe
Sloterdijk, Peter
Die schrecklichen Kinder der Neuzeit
© Suhrkamp Verlag
978-3-518-42435-3
Suhrkamp Verlag
SV
Peter Sloterdijk
Die schrecklichen Kinder
der Neuzeit
Über das anti-genealogische Experiment
der Moderne
Suhrkamp
Erste Auflage 2014
© Suhrkamp Verlag Berlin 2014
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des
öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk
und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf
in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere
Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages repro­
duziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme ver­
arbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Druck: CPI ? Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978­3­518­42435­3
5
Inhalt
Vorbemerkung
Von Erbe, Sünde und Moderne.. .. ... .. ... .. ....... 9
Kapitel 1
Die permanente Flut. Über ein Bonmot der Madame
de Pompadour . . . . ... .. ... .. ... ... .. ... . .. ...... 31
Kapitel 2
Dasein im Hiatus oder: Das moderne Fragen­Dreieck
De Maistre ?Tschernyschewski ? Nietzsche .. .. ..... 54
Kapitel 3
Dieser beunruhigende Überschuß an Wirklichkeit
Vorausgreifende Bemerkungen zum Zivilisationsprozeß
nach dem Bruch . .. . ... .. .. ... .. ... .. ... .. ....... 75
Kapitel 4
Leçons d?histoire. Sieben Episoden aus der Geschichte
der Drift ins Bodenlose: 1793 bis 1944/1971.. .. ...... 95
Paris, den 22. Januar 1793, gegen acht Uhr abends .. 95
Paris, den 2. Dezember 1804 .. .. ... .. .. ... ...... 108
Zürich, den 5. Februar 1916 ... .. ... .. ... .. ...... 128
Jekaterinburg, die Nacht vom 16. zum 17. Juli 1918 . 144
Moskau, den 13. März 1938 .. ... .. .. ... .. ....... 163
Posen, den 4. Oktober 1943 ... .. ... .. ... .. ...... 179
Bretton Woods, 22. Juli 1944 / Washington
15. August 1971.. .. ... .. ... .. ... .. .. ... ..... 195
6 Inhalt
Kapitel 5
Das Über­Es: Vom Stoff, aus dem die Sukzessionen
sind .. . . . . . .. . . . .. .. .. ... .. ... .. ... .. ... ....... 222
1 Im Copy­Shop der Evolution . .. ... .. ......... 222
2 Der Patriarchengeist und die Transmissionskette . 242
3 Monstren­Zeugungen im Hiatus: Schimären und
Philosophenschüler ... .. ... .. .. ... ... ........ 255
4 Der Bastard Gottes: Die Jesus­Zäsur.. .. ........ 278
Kapitel 6
Die große Freisetzung . ... .. ... .. ... .. .. ... ....... 312
1 Ecce homo novus . ... .. ... .. ... .. ... ........ 312
2 Irreguläre Geburten.. .. ... .. ... .. ... .. ....... 328
3 Die Kinder des Abgrunds
Von Mystik als antigenealogische Revolte ....... 339
4 Die glorreichen Bastarde marschieren auf ....... 370
5 Kreative Diskriminierung: Legale und Illegale
Ein Triptychon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 390
6 Von Abstammung kein Wort mehr
Voiture ? de Sade ? Jefferson ? Emerson ?
Stirner ? Marx ? Deleuze/Guattari .. .. ......... 424
Ausblick
Im Delta .. . . . . .. . ... .. ... .. ... .. ... .. ... ....... 483
I grow, I prosper.
Now, gods, stand up for bastards!
William Shakespeare, King Lear, I, 2.
9
Vorbemerkung
Von Erbe, Sünde und Moderne
Der Mensch ist das Tier, dem man die Lage erklären muß.
Hebt es den Kopf und blickt über den Rand des Offensicht­
lichen, wird es von Unbehagen am Offenen bedrängt. Un­
behagen ist die angemessene Antwort auf den Überschuß
des Unerklärlichen vor dem Erschlossenen.
Früh manifestiert sich solches Unbehagen in Erkundi­
gungen nach Anfang, Ziel und Bedeutung der menschlichen
Situation. Griechische Philosophen haben es als »Staunen«
(thaumazein) mystifiziert, seit sie vorgaben, diese Empfin­
dung sei intellektuell stets anregend und existentiell erhaben.
Die Romantiker sind den Philosophen gefolgt. Sie erhoben
das Phänomen in den Geheimniszustand. Sie wollten die
Quelle der Poesie in ihm erkennen, als sei das Staunen die
Reaktion der Alltäglichkeit auf das Mysterium. Erst Des­
cartes hat das Staunen entzaubert, als er das estonnement als
die erste und unangenehmste unter den »Leidenschaften der
Seele« anführte. Sie könne immer nur von Übel sein.1
Dem alltäglichen Empfinden war der mißliche Charakter
des Zustands ohnedies nie auszureden. Du kennst die An­
fänge nicht, die Enden sind dunkel, irgendwo dazwischen
hat man dich ausgesetzt. In der Welt sein heißt im unklaren
sein. Am besten ist es, man hält sich an den Schein des Sich­
Auskennens in der näheren Umgebung, die man seit einer
1 »L?estonnement est un excès d?admiration, qui ne peut jamais estre que
mauvais.« René Descartes, Die Leidenschaften der Seele (1649), Fran­
zösisch­Deutsch, herausgegeben und übersetzt von Klaus Hammacher,
Hamburg 1996, S. 114.
10 Vorbemerkung
Weile die »Lebenswelt« nennt. Verzichtest du auf weitere
Fragen, bist du vorläufig in Sicherheit.
Nicht das Wort war am Anfang, sondern das Unbehagen,
das nach Worten sucht. Dem Mythos fiel die Aufgabe zu,
Wege aus der ersten Unklarheit anzuzeigen. Wovon man
nicht schweigen konnte, davon mußte man erzählen. Erzäh­
len heißt, so zu tun, als wäre man am Anfang dabeigewesen.
Erzähler spiegeln gerne vor, sie könnten mit dichten Gefä­
ßen an langen Seilen aus dem Brunnen der Vergangenheit
schöpfen. Öfters wurde die Behauptung, höhere Erzähl­
macht zu besitzen, von der Suggestion begleitet, man habe
aus gewöhnlich gut unterrichteten Jenseitskreisen bevor­
zugte Einsichten in die näheren Umstände des Endes erhal­
ten.
Durch den Erfolg des Christentums hat sich in der westli­
chen Zivilisationssphäre die biblische Auslegung des Unbe­
hagens am In­der­Welt­Sein durchgesetzt. Die übermittelt
mittels einer kurzen Erzählung eine einleuchtende, obgleich
düstere Lektion: Fühlen wir uns vom Befund unseres Da­
seins nicht selten befremdet, so aus einem begreiflichen
Grund. Wir sind Vertriebene, fast von Anfang an. Wir alle
haben eine Heimat gegen ein Exil getauscht. Sind wir hier in
der Welt, so weil wir nicht würdig waren, an einem besseren
Ort zu bleiben.
Im Licht des mächtigsten Mythos des Westens sind die
Post­Adamiten Wesen, an denen eine Bestrafung ihre Spu­
ren hinterlassen hat, unverbüßlich, irreversibel, in jeder Ge­
neration von neuem. Er handelt von der fortbestehenden
Vertreibung, die uns aus der paradiesischen Situation in die
jetzige Verlegenheit versetzt hat. Die Lage des Menschen ist
Sündenfolge.
Der Mythos hebt das Unbehagen nicht auf, er macht es
erträglich, indem er es erläutert. Die Grundregel der My­
11
Von Erbe, Sünde und Moderne
thodynamik besagt: Jede Geschichte ist besser als keine Ge­
schichte. Auch ein dunkler Mythos erhellt die Lage, indem
er dem Unbehagen eine Fassung gibt. Oft unterdrückt er
sogar das Aufsteigen des Unbehagens, indem die Erklärung
der Empfindung zuvorkommt.
Jedoch kann aufgrund paradoxer Nebeneffekte bei der
Auslegung des Unbehagens am In­der­Welt­Sein der Effekt
auftreten, daß das schwer Erträgliche in gesteigerter Form
wiederkehrt: dann nämlich, wenn die unklare Lage infolge
der Auslegungen des Mythos noch um vieles schlimmer er­
scheint als die anfängliche Irritation, zu deren Behebung die
Erzählung in Gang gesetzt wurde.
Für eine solche Übersteigerung des Unbehagens durch
seine Erklärung bietet die Ideengeschichte Alteuropas kein
stärkeres Beispiel als die Auslegung der biblischen Erzäh­
lung von der Vertreibung der menschlichen Ureltern aus
dem Paradies bei Aurelius Augustinus (354­430).1 Aufgrund
seiner Intervention wurde aus dem Unbehagen Bestürzung.
Anfängliche Konfusion wandelte sich in Perplexität. Der
Bischof von Hippo hatte den Weg vom Mythos zum Logos
mit jener Folgerichtigkeit zurückgelegt, die die Wesensver­
wandtschaft von Theologie und Extremismus ahnen läßt.
Sie macht bis heute schaudern, sollte man sich noch einmal
der Mühe unterziehen, den Vorgang aus den Akten aufzu­
rollen. Es war der Übergang von einem Ursprungsmärchen
voll symbolischer Bezüge und archetypischer Obertöne in
eine Katastrophendoktrin von primärmasochistischer Ein­
dringlichkeit.
1 Die kritischen Passagen finden sich vor allem in den Genesis­Kommen­
taren Augustinus? und in den Büchern XII bis XIV des Werks über den
Gottesstaat. Analoge Verdunkelungen zeigen sich im iranischen Dualis­
mus, in manchen Varianten des Hinduismus und in einigen Versionen der
spätantiken Gnosis.
12 Vorbemerkung
Die Steigerung des vagen Unbehagens zum metaphysischen
Debakel bewirkte die Lehre vom peccatum originale ? ei­
nem theologischen terminus technicus, den man im Deut­
schen seit dem 13. Jahrhundert mit dem sachlich völlig an­
gemessenen Begriff »Erbsünde« wiedergibt. Sie resultierte
aus der unnachgiebigen Rationalisierung der biblischen
Erzählung von der Vertreibung der Menscheneltern durch
den ? mit Origines und dem Pseudo­Areopagiten ? ambi­
tioniertesten Gottes­Logiker des ersten nach­christlichen
Jahrtausends. Das Judentum, dem die Urheberrechte an
dem Vertreibungsmärchen gehörten, hatte sich in der Re­
gel damit begnügt, den Aufenthalt der Menschen in einer
suboptimalen Welt recht und schlecht zu motivieren, indem
es die in nach­babylonischer Zeit kolportierte Geschichte
zusammen mit dem übrigen Hausvorrat erbauender und
ermahnender Überlieferungen von Generation zu Gene­
ration weitertrug. Die jüdischen Rezipienten konnten den
psychischen Gewinn aus der mythischen Erklärung verbu­
chen, da sie nun immerhin wissen durften, woran sie waren.
In ihre so erklärte Lage fanden sie sich mit dem mutigen
Realismus, der ihrer Weisheitstradition von alters her eigen

war.
Augustinus hingegen löste mit seiner verschärften Sün­
den­Doktrin eine Verdüsterung aus, von der sich die west­
liche Welt bis zum heutigen Tag nur zögernd erholt. Er
wollte sich nicht damit zufriedengeben, den außerparadie­
sischen status quo der Menschen demütig zur Kenntnis zu
nehmen. Er drängte darauf, den Fall tiefer zu motivieren, in­
dem er ihn zu einem Entfremdungsdrama zwischen Mensch
und Gott überhöhte, bei dem die Rolle des böse lachenden
Dritten dem Satan zufiel, dem selbstverliebten Anführer der
aufrührerischen Engel. Der nordafrikanische Bischof, Ex­
Manichäer und Platoniker, der der weltlichen Weisheit ab­
geschworen hatte, erwies sich einmal mehr als die Diva der
13
Von Erbe, Sünde und Moderne
Theologie: Eine Arie vorzutragen, ohne ihre eigene Note in
sie zu legen, kam für sie nicht in Frage. Dem Hysteriker von
Hippo, aufgrund seiner Begabung für Schuldgefühle zu hö­
heren kirchlichen Aufgaben prädestiniert, schien es geboten,
den kritischen Vorgang aus der mythischen Vergangenheit
herauszulösen, um ihn im Leben jedes einzelnen zu reak­
tualisieren.
Man könnte das Manöver zunächst für eine Sache der
nachzureichenden Plausibilität halten: Die Idee der Gerech­
tigkeit Gottes gerät ja leicht in ein bedenkliches Licht, wenn
die Nachkommen Adams ausnahmslos für eine einzige,
in ferner Vorzeit begangene Sünde eines ansonsten profil­
schwachen Vorfahren büßen müssen, ohne in eigener Sache
Schuld auf sich geladen zu haben. Hatte schon der Mythos
in seiner schlichten Gestalt das Risiko mit sich gebracht,
daß die gewöhnliche Vernunft nach der Verhältnismäßigkeit
zwischen Fehltritt und Strafe fragen könnte ? denn Tod,
Not und Krankheit, eines wie das andere im Paradies unbe­
kannte Übel, sollen nach der Aussage des Apostels Paulus
als die gerechten Folgen der Urelternsünde gelten ?, stellt
sich hinsichtlich der ferneren Nachkommen um so mehr das
Problem, warum auch sie, Jahrtausende post eventum, noch
immer für die Verfehlung der Vorfahren büßen sollten.
Es lohnt sich, auf die augustinischen Antworten und ihre
Ausarbeitungen durch die Theologie des folgenden Jahrtau­
sends einen Blick zu werfen, wäre es auch nur, weil man auf
diese Weise Einsicht in die Fabrikation der alteuropäischen
Psyche und einige ihrer bestimmenden Komplexe gewinnt.
Die klassische Erbsünden­Lehre läßt sich in einen logi­
schen und einen moralisch­sexualpathologischen Teil auf­
gliedern. Welcher von beiden für modernes Empfinden
und Argumentieren befremdlicher ist, wäre nicht leicht zu
sagen. Der logische Aspekt der Lehre vom peccatum origi-
14 Vorbemerkung
nale mutet dem zeitgenössischen Interessenten die Aufgabe
zu, sich auf den Standpunkt antiker Ursprungsphilosophie
und ihrer mittelalterlichen Überarbeitungen zurückzuver­
setzen. Ihr zufolge wäre alles Entsprungene »auf gewisse
Weise« im »Ursprung« (arché, principium) enthalten und
verkörpere nur dessen zeitlich und phänomenal versetzte
»Entfaltung«. Alle später lebenden Menschen wären also
»im Samen Adams« mit­präsent gewesen, da gemäß dieser
inzwischen außer Dienst gestellten Logik noch die fernste
Folge im ersten Beginn angelegt ist. Es gibt nichts Neues
in der Welt, nur die Entfaltung präformierter Substanzen.
Hat Adam, der Ursprungs­Mann, seine bei der Schöpfung
intakte Substanz durch erste Sünde korrumpiert, geht die
Korruption auf die Nachkommen über, da diese »in ihm«
mitenthalten sind. Nicht bloß die ursprünglich heile Sub­
stanz soll teilbar und dennoch in jedem ihrer Teile in Gänze
anwesend sein. Für die Korruption der Substanz gilt das
Gesetz der Anwesenheit des Ursprungs im nachgeordneten
Glied wie das der Anfangsmacht in der Folgeerscheinung
in gleicher Weise. Jeder Nachkomme Adams ist darum »in
Adam« mitkorrupt.
Hat die zeitgenössische Vernunft schon einige Mühe mit
der bizarren Mengenlehre des Ursprungs­Denkens, so wird
sie durch den moralischen und sexualpathologischen Teil des
Erbsündendogmas erst recht heftig vor den Kopf gestoßen.
Mit ihm wird die Doktrin psychologisch invasiv und mo­
ralisch zudringlich. Sie gibt vor, eine Phänomenologie der
Sünde zu liefern, die zu zeigen vermöge, wie das erste Fehl­
verhalten sich in jedem einzelnen der Adamskinder spon­
tan reaktualisiert. Der Tatbestand des peccatum originale
gilt als erfüllt, wenn sich die Erbverfehlung des Vorfahren
in der eigenen Verfehlung des Nachgeborenen wiederholt.
Der Erbsündenprozeß darf sich nicht nur als passive Über­
nahme einer alten Last vollziehen, obschon das Gewicht der
15
Von Erbe, Sünde und Moderne
Passivität in der außerparadiesischen Verfassung des Men­
schen schwer genug wiegt. Zusätzlich ist zu erweisen, wie
das Wiederaufflammen der Sünde im einzelnen zustande
kommt, damit sie ihm auch als persönliche Tat zugerechnet
werden kann. Nicht bloß als Erbe des adamitischen Makels
ist der Nachkomme zur Sünde disponiert; er wird zum Sün­
der aus eigener Intensität.
Allein dieses moralisch­theologische Arrangement
schützt die Gerechtigkeit Gottes gegen den Vorwurf, sie
antworte auf Adams Fehltritt mit einer Überreaktion. Die
Nachkommen haben das peccatum originale auf eigene
Rechnung erneut zu begehen, um ihre Verdammnis ? ge­
nauer ihre Verdammnis zur Verdammnis ? zu verdienen.
Und sie begehen es unfehlbar, weil sie mit dem Makel des
Sündigenmüssens ins Leben treten. Das ist es, was Augusti­
nus? listige und zudringliche Wendung vom non posse non
peccare als letzte Wahrheit der natürlichen conditio humana
nach den Fall besagt. Die Korruption ist dem Menschen
zuvorgekommen. Der Mensch ist das Lebewesen, das nicht
nicht sündigen kann, solange nicht die Gnade einigen Weni­
gen einen Weg der Rückkehr in die Integrität aufzeigt. Daß
es wenige sind, die zu den Erwählten rechnen werden, steht
für Augustinus außer Zweifel. Am Hof Gottes sind ja nur
die beim Aufruhr der Engel freigewordenen Plätze nachzu­
besetzen. An einem darüber hinausgehenden Kontingent an
Kandidaten der Erlösung besteht im Jenseits weder Bedarf
noch Interesse. Für sentimentalen Universalismus gibt es in
der vera religio von der ersten Minute an keinen Raum, was
auch immer spätere, universalistisch überventilierte Apostel
und deren philosophischer Nachtrab hierzu sagen werden.
Das authentische Christentum, wie es von Paulus bis Au­
gustinus kodifiziert wurde, bleibt als strikte Erwählungs­
und Gnaden­Religion eine Sache der Wenigsten, einiger
erratischer verbaler Gesten »an alle« und pro multis un ­
16 Vorbemerkung
geachtet.1 Seine heilige Schrift, recht verstanden, ist eher ein
Buch für keinen als für alle.
Den Hebelpunkt für seine Lehre von der anhaftenden
Erblichkeit der Sünde findet Augustinus im Generations­
prozeß: Wie das zweigeschlechtliche Leben als solches ist
die Sünde eine sexuell übertragbare Krankheit. Mehr noch:
Der Modus der Übertragung, der Geschlechtsakt, beinhaltet
die Wiederholung der ersten Sünde, weil er nicht ohne su-
perbia, das heißt nicht ohne die überhebliche Selbstbevorzu­
gung des Geschöpfs vor seinem Schöpfer, zustande kommt.
Der sexuelle Höhepunkt ist die Spur des teuflischen Hoch­
muts, in dem sich die Kreatur von ihrem Ursprung abwen­
det, um sich selber an die erste Stelle zu rücken.2 Wären die
Menschen fähig geblieben, sich fortzupflanzen, ohne ihren
sinnlichen Aufruhr zu genießen, wären sie dem Heil näher
geblieben. Doch im postlapsarischen Zustand haben sie den
Stachel des Strebens nach selbstbezüglicher Lust im Fleisch.
Die sinnliche Wollust, sofern sie die Wendung zum Vorrang
des Ich vollzieht, verwirkt die Ewigkeit.
In modernen Kontexten würde man das augustinische
Argument in die These kleiden, wonach sich in der Lust an
der Lust die »narzißtische« Disposition der Psyche geltend
macht: Diese freilich ist, um zur religiösen und metaphy­
sischen Diktion zurückzukehren, mit der Einordnung des
Geschöpfs in die kosmischen Hierarchien nicht verträglich.
Die Verkehrungstendenz haftet den Sterblichen aufgrund
ihrer primären Libido­Orientierung unauslöschlich an.
Im Stand der Korruption ist der Mensch zur Selbstbevor­
1 Namentlich Apostelgeschichte 3,21. Die in jüngerer Zeit geführte Aus­
einandersetzung über die Differenz von pro omnibus oder pro multis
in den Einsetzungsworten des Abendmahls ist eine Scheindebatte, weil
beide Wendungen die ursprüngliche Adressierung des Christentums an
die wenigen Erwählten aller Kategorien unsichtbar machen.
2 Vgl.: De Civitate Dei, 14. Buch, Abschnitt 15: »Der Hochmut der Über­
tretung ist schlimmer als die Übertretung selbst.«
17
Von Erbe, Sünde und Moderne
zugung verdammt. Der Wille der Eigenmacht wohnt dem
Nachkommen Adams allzu tief inne, als daß er ihn aus eige­
nem Entschluß abstreifen könnte. Die Liebes­Ordnung ist
bei ihm von Grund auf verdreht. Er instrumentalisiert das
Absolute und vergöttlicht die Instrumente. Obendrein ist er
dazu verurteilt, seine Verfassung vor sich selbst zu verber­
gen ? die Verkehrung hat die Unaufrichtigkeit zur ständi­
gen Begleiterin. Die Geschichte der Selbstbevorzugung, die
zugleich die halbbewußte mauvaise foi ist, führt in »Gott­
ferne«, Aufstand, Abfall, Irre, Sünde, Perversion und wie
die großen Titel der Verfehlung sonst heißen. An ein Ende
gelangte sie nur, wenn dem Menschen gezeigt wird, wie er
sich anzustellen hätte, wollte er dem Schöpfer wieder den
Vortritt lassen. Dies könne ausschließlich das Hören auf das
Evangelium leisten. Es allein solle zum posse non peccare der
wirklichen Gläubigen und zum non posse peccare der Ver­
klärten zurückführen.1
Damit wird der Sturz in die Erbsünde immerhin für einige
Erwählte reversibel. Die augustinische Rekonstruktion der
menschlichen Geschichte nach dem Fall läßt deutlich wer­
den, wie sehr das Christentum der Bemühung entsprang, die
ursprüngliche Überreaktion Gottes gegen Adams Verfeh­
lung durch ein Erlösungswerk zu kompensieren, das dem
Menschen eine geringe Heilschance zurückgab, ohne daß
der im Zorn zu weit gegangene Gott das Gesicht verlieren
mußte. Die Schriften Augustinus? sind von der Einstimmung
in das Klima der Überbestrafung durchzogen: Es kann für
den strengen Bischof von Hippo kein irdisches Elend geben,
an dem der Mensch nicht letztlich selber schuld wäre.
Es gehört zu Augustinus? problematischen Verdiensten,
wenn die westliche Zivilisation durch seine Anregungen ei­
1 Gläubig ist, wer die Fähigkeit, nicht zu sündigen, wiedergewinnt, ver­
klärt, wer zum Stand des Nicht­mehr­sündigen­Könnens aufsteigt.
18 Vorbemerkung
nen Gedanken der Erblichkeit von Schuld, Sünde und Kor­
ruption zu entwickeln vermochte, der es mit dem indischen
Konzept des Karma von ferne aufnehmen konnte. Indem
Augustinus alle spontanen Intuitionen der moralischen All­
tagsvernunft auf den Kopf stellte, konzipierte er eine Form
von Sündigkeit, die durch die Tatsachen der Fortpflanzung
unmittelbar auf sämtliche Nachkommen Adams überging ?
einzig den jungfräulich empfangenen Erlöser ausgenom­
men. Mit Hilfe seines Erbsünde­Konzepts gelang dem me­
lancholischen Bischof die Konstruktion eines Kontinuums
irdischer Geschichte, das ganz im Zeichen der zugleich an­
geborenen und immer spontan erneuerten Auflehnung der
Einzelnen gegen Gott stünde. Die civitas terrena ist nichts
als ein langes Défilé von Aufständen, Anmaßungen und Ver­
brechen, das von den Bemühungen einiger redlicher Herr­
scher und Richter um die irdische iustitia nur unzulänglich
eskortiert wird. Aufstand ist das Wesen des Menschen: Der
Mensch wird wie Gott, indem er dessen Privileg, nein sa­
gen zu können, auf Gott selbst anwendet. Als Albert Camus
im Jahr 1951 seinen Großessay Der Mensch in der Revolte
publizierte, hatte er noch immer kaum mehr anzubieten als
eine um aktuelle Beispiele bereicherte Paraphrase der Leh­
ren seines Landsmanns Augustinus.
Man darf von der tiefsinnig­heimtückischen Konstruk­
tion der ersten menschlichen Verfehlung und ihrer unver­
meidlichen Weitergabe durch den Akt der Fortpflanzung
ohne Zorn und Eifer behaupten, sie habe aus psychohistori­
scher Sicht über die Entwicklung des Westens einen Schatten
geworfen, dessen Aufhellung durch philosophische, theolo­
gische, psychologische, soziologische und literarische Auf­
klärung bis heute nicht als abgeschlossen gelten kann. Nach
wie vor sind die Einprägungen des metaphysischen Maso­
chismus augustinischer Herkunft mitsamt seiner Fracht
an politischer Phobokratie und existentieller Körperfeind­
19
Von Erbe, Sünde und Moderne
schaft in den Archipelen des Christentums spürbar1 ? zwei
Grundübel, zu denen sich Inquietismus, Erwählungspanik,
Kulpabilismus, sexualneurotische Befangenheit und Kult
des Elends gesellen. Kein harmloser Befund, bedenkt man,
daß das Christentum mit über zwei Milliarden nominellen
Gläubigen bis auf weiteres die numerisch größte, zudem
theologisch intensivste Religionsmacht der Welt darstellt,
mögen auch die düsteren Erbsachen heute fast überall in die
unauffälligen Dialekte von Empathie, Sozialarbeit und Soli­
darität umcodiert worden sein.
Auch für die Nachdunkelung des Berichts von der Vertrei­
bung aus dem Paradies durch die augustinische Erfindung
der Erbsünde gilt das mythodynamische Grundgesetz, das
im Feld des primären Unbehagens regiert: Jede Erzählung
ist besser als keine Erzählung. Keine dunkle Erzählung kann
sich jedoch den Wirkungen von Aufklärung entziehen, die
alte Geschichten unter neue Beleuchtungen stellt. Je düste­
rer die Redaktion einer alten Geschichte ausfiel, desto hef­
tiger manifestiert sich später das Bedürfnis, die Erzählung
durch Umerzählung aufzuhellen.
Diese Beobachtung läßt sich an den Schicksalen der Erb­
sündenlehre in moderner Zeit erläutern. Schon Rousseau
lieferte eine weltliche Umschreibung der Doktrin, indem er
die Vertreibung aus dem Paradies der Eigentumslosigkeit als
den Gründungsakt der bürgerlichen Gesellschaft auslegte:
An die Stelle der Erbsünde tritt die erste Regung des Sinns
für Privatbesitz: Mit dem Satz: Ceci est à moi! ? »dies gehört
mir« beginnt die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft,
die nach Rousseau eine einzige Sequenz von Entfremdun­
gen und Verkünstlichungen darstellt. Betrachtet Rousseau
1 Ein positiveres Resümee bietet Erich Przywara, Augustinisch. Ur­Hal­
tung des Geistes, Einsiedeln 1970, S. 77 f. Kap. VIII. Augustinus in unse­
rem Jahrhundert.
20 Vorbemerkung
das Eigentum auch als den Ursprung zahlreicher zivilisato­
rischer Übel, streitet er die Unvermeidlichkeit dieser Erfin­
dung nicht ab. Er hatte ? wie nach ihm Bismarck1 ? begrif­
fen, daß alle Legitimität letztlich auf einer verjährten Illegi­
timität beruht. Mit seiner Neudeutung der Urkatastrophe
vollzieht er den Schritt, der die künftigen Stellungnahmen
der Modernen zur Frage nach dem ersten Übel vorzeichnet:
Er enttheologisiert das Böse und verlagert die Quelle der
Korruption auf das Feld des Sozialen.
Immanuel Kant, der Bewunderer Rousseaus, löst die
Geschichte des Sündenfalls vollends aus dem religiösen
Kontext und versetzt sie in eine zivilisationsgeschichtliche
Perspektive: Es begründet in seinen Augen die Ehre des
Menschengeschlechts, aus dem Paradies vertrieben worden
zu sein, da es nur so auf den Weg der Vernunft und des Fort­
schritts gebracht werden konnte.2 Indem die Ureltern ihre
Bequemlichkeit verloren, wurden ihre Nachkommen zu
Agenten der Sittlichkeit und der immer strebenden Bemü­
hung. Das bürgerliche Dasein beginnt, wo die paradiesische
Faulheit endet.
Bei Friedrich Schiller findet man schließlich die vollstän­
dige Umwertung der Vertreibungsgeschichte: Er läßt den
Prozeß der menschlichen Freiheit geradewegs mit dem Sün­
denfall beginnen, ja, er zelebriert diesen als »die glücklichste
und größte Begebenheit in der Menschengeschichte«. Sie
eröffnete die Bahn der Selbsttätigkeit. Weit davon entfernt,
eine Erbschuld zu begründen, gibt der ursprüngliche Unge­
horsam gegen Gott unter dem Baum der Erkenntnis die er­
ste Probe der erwachenden Vernunftkräfte. Mit einem ihrer
unwürdigen, trägen Paradies im Rücken blickt die Mensch­
1 Otto von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen, Kapitel VIII.
2 Immanuel Kant, Muthmaßlicher Anfang der Menschheitsgeschichte,
1786. Vgl. Kurt Flasch, Eva und Adam. Wandlungen eines Mythos, Mün­
chen 2005, S. 86.

Dieser Artikel wurde am Freitag, 08. April 2022 im Shop aufgenommen.

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