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Frederic Vester: Die acht Grundregeln der Biokybernetik

  • Artikelnummer: 520072,9
  • Hergestellt von: Frederic Vester

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Kapitel 7: ?Die Kunst, vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität. Ein Bericht an den Club of Rome“, Taschenbuch, 384 S., Mai 2002, 6. Auflage 2007)

Die acht Grundregeln der Biokybernetik
Frederic Vester stellt in seinem epochemachenden Werk ?Die Kunst vernetzt zu denken“ die acht Grundregeln der Biokybernetik vor, die allgemeine Gültigkeit besitzen und  ausnahmslos für alle lebenden komplexen Systeme gelten. Man kann die acht Regeln auch als acht Fähigkeiten betrachten, die zur Selbstorganisation lebensfähiger Systeme  entscheidend beitragen. Wie im letzten Blog ausgeführt wurde, setzt der biokybernetische Problemlösungsprozess  im Gegensatz zum üblichen problemfixierten Vorgehen zuerst beim System selbst an.  Daher ist es wichtig, verlässliche Kriterien zur Bestimmung der Lebensfähigkeit des zu betrachtenden Systems zu erhalten. Anhand dieser Regeln lässt sich jederzeit die Überlebensfähigkeit eines Systems zu überprüfen. Das vereinfacht den Umgang mit komplexen Systemen enorm, da durch das Kriterium ?Lebensfähigkeit? das ganze System erfasst wird und man sich dadurch die Arbeit spart, für jede Systemkomponente einzeln die jeweiligen Gesetzmäßigkeiten herauszufinden. Die Regeln gelten im Großen wie im Kleinen für jedes lebensfähige System, was das Procedere doch sehr erleichtert.

Regel 1: Negative Rückkopplung muss über positive Rückkopplung dominieren!
Ein lebensfähiges System muss über deutlich mehr negative Regelkreise als positive verfügen, denn eine ?negative Rückkopplung bedeutet Selbstregulation durch Kreisprozesse“ und bewirkt im System Stabilität gegen äußere Störungen und Grenzüberschreitungen. Dagegen agieren positive Rückkopplungen häufig als eine Art ?Starter? und bringen Prozesse durch Selbstverstärkung in Gang, jedoch schaukeln sie sich irgendwann hoch, laufen aus dem Ruder und sind daher einer langfristigen Überlebensfähigkeit des Systems nicht zuträglich. Generell müssen positive  Rückkopplungen den ihr übergeordneten negativen gehorchen, ansonsten droht Gefahr und das System bricht zusammen.

Regel 2: Die Systemfunktion muss vom quantitativen Wachstum unabhängig sein! 
Als nächste wichtige Voraussetzung für ein kybernetisches System postuliert Vester die Unabhängigkeit der Systemfunktionen vom quantitativen Wachstum. Reines Wachstum einzelner Teilsysteme und deren Komponenten funktioniert nicht, wenn ausgleichende Anpassungen an die neuen Aufgabenstellungen ausbleiben. Das System würde sich zwar rein subjektiv vergrößern, jedoch fehlt dann der benötigte Vernetzungsgrad, der für Stabilität und Überlebensfähigkeit eines Systems ausschlaggebend ist. Als Stichwort führt Vester hier den Begriff der ?Metamorphose“ an. Eine Raupe wäre ab einer bestimmten Größe nicht mehr lebensfähig. Sie muss rechtzeitig auf Nullwachstum umschalten, um sich zu verpuppen und zum Schmetterling zu werden.  
Hohes Wachstum und hoher Vernetzungsgrad können jedoch auch zu Chaos führen, da Regulierungen nicht mehr abgestimmt sind. Aus diesem Grund bilden sich in der Natur oft ?Cluster“,  in denen zwar eine hohe Vernetzung herrscht, es entstehen allerdings unter ihnen nur wenige, ausgewählte Relationen.
Abschließend muss noch betont werden, dass sich diese Regel nicht konsequent gegen Wachstum richtet, aber sie warnt vor Abhängigkeit.  Ungebremstes Wachstum hebt sämtliche Selbstregulatorien der ersten Regel auf und richtet ein kybernetisches System zu Grunde. Ein solches Wachstum verlagert sich dann in den Regelkreis des darüber liegenden Systems und führt dort irgendwann durch starke und stabile positive Reglungskreise zu katastrophalen Folgen.

Regel 3: Ein System muss funktionsorientiert und nicht produktorientiert sein!
Die dritte biokybernetische Grundregel beurteilt die Orientierung des gesamten Systems. Nach Vester muss ein System funktions- und nicht produktorientiert sein, denn Produkte ändern sich rasch,  Funktionen nicht. In einem komplexen Wirkungsgefüge sollte ein System nie stur nach einem Produkt streben, sondern sollte seinen Fokus auf dessen Funktion und Funktionalität richten, um auf veränderte Umwelteinflüsse flexibel reagieren zu können.  Am Beispiel einer mittelständischen Firma wird der Sinn dieser Regel schnell deutlich, denn in unserer schnelllebigen Zeit kann es sich kein Unternehmen leisten, an einem Produkt festzuhalten und nicht auf Veränderungen im Markt zu reagieren.  Ziel des Managements muss es vielmehr sein, sich über die Funktion des Produkts im Wirkungsgefüge klarzuwerden. Wenn es erkennt, dass die Funktion in der Erfüllung eines Bedürfnisses liegt, kann es sich an dieser Funktion orientieren und weiß, dass das Produkt  langfristig profitabel ist.

Regel 4: Nutze Fremdenergie zum Arbeiten und deine eigene nur zum Steuern! 
Diese Regel funktioniert nach dem Jiu-Jitsu-Prinzip: Verschwende keine Energie, sondern  nutze vorhandene (fremde) Konstellationen und Kräfte für deine Zwecke,  indem du sie durch geringe (eigene) Steuerenergie in die gewünschte Richtung umlenkst. Ein System, welches die vorliegenden Konstellationen nutzt, anstatt dagegen anzukämpfen, profitiert von diesem Zuwachs an Möglichkeiten und fördert so die Selbstregulation. Da nicht gegen eine existierende Kraft gekämpft, sondern deren Energie für eigene Zwecke ausgenutzt wird, spart man beträchtliche Eigenenergie.
Ähnlich funktioniert das Prinzip ?Prophylaxe statt nachträglicher Reparatur?. (Bsp. Nutzung der Selbstreinigungskraft von Gewässern statt teure Klärwerke)

Regel 5: Mehrfachnutzung von Produkten, Funktionen und Organisationsstrukturen
Für ein kybernetisches System ist es von hoher Priorität,  Produkte, Funktionen und  Organisationsstrukturen mehrfach zu nutzen. Einfach ausgedrückt, sollen in Anspruch genommene Ressourcen bezüglich der zeitlichen und zweckmäßigen Nutzung optimiert werden. Prozesse, die ausschließlich in singulären Bereichen arbeiten, arbeiten hier genau entgegen der für die Überlebensfähigkeit eines Systems so wichtigen Vernetztheit. Auch wenn der Durchsatz einer Komponente durch mehrfache Nutzung für einen bestimmten Prozess vielleicht abnimmt, so arbeitet das gesamte System dennoch effektiver. Durch die erhöhte Vernetzung im System existiert eben beschriebene Komponente nicht doppelt und das System verwendet Ressourcen schonender. Für einen solchen Optimierungsvorgang wird natürlich ein sehr hohes Maß an fachübergreifendem Wissen benötigt. Ein einfacher Prozess kann nicht willkürlich verändert oder integriert werden, sondern schon während der Entwicklung und Forschung wird eine biokybernetischer Betrachtungsweise benötigt.

Regel 6: Nutzung von Kreisprozessen: Recycling   
Die Nutzung von Kreisprozessen bildet einen elementaren Baustein für ein funktionierendes Wirkungsgefüge. Durch Prozesse, die sich an der Kreisform orientieren, verschmelzen Ausgangs- und Endprodukte und das System passt sich an seinen Lebensraum an. Diese Prozessstruktur schafft keine Abfallberge oder Ressourcenmängel, was der Überlebensfähigkeit sehr zuträglich ist. Die Abhängigkeit von Ressourcen außerhalb des Systems wird somit bestmöglich eliminiert oder zumindest gemildert, um so die Überlebensfähigkeit des Systems aufrechtzuerhalten. Als Schlagwort sei hier der Begriff ?Recycling? genannt, der vielleicht nicht im Kleinen nötig ist, jedoch irgendwann etabliert werden muss, um Abfallstaus zu verhindern und das Gesamtsystem als solches zu erhalten. Am besten eröffnet sich dieser Gedanke, wenn man die Natur unserer Erde betrachtet: Seit Äonen von Jahren wälzt unser Planet die exakt selbe Menge an Biomasse um. Die Themen Recycling und Kreisprozesse sind hier bis ins kleinste Lebewesen strukturiert und funktionieren noch heute. Hier fällt auf, dass der Blick auf die kurzsichtige lokale Betrachtungsweise nicht ausreicht, sondern, wie zuvor erläutert, eine fachübergreifende Erarbeitungsstrategie benötigt wird, um die Folgen für das System korrekt abschätzen zu können.


Regel 7: Symbiose
Der Begriff bezeichnet das enge Zusammenleben unterschiedlicher Arten zum  gegenseitigen Nutzen und bildet die Grundlage aller lebendigen Systeme. Die gegenseitige Nutzung von Verschiedenartigkeit funktioniert durch Kopplung und Austausch. Logischerweise werden in einem solchen Gefüge auch klar messbare Faktoren optimiert, wie z.B. einen geringeren Energieverbrauch und Durchsatz. Externe Dependenzen nehmen ab, dagegen erhöht sich die interne Dependenz. Die Systeme kommen durch symbiotische Beziehungen untereinander zu ?meistens  hochinteressanten Lösungen, nach denen wir auch immer wieder suchen sollten, da sie ?kurzfristige Ausbeutung? durch ?stabile Kooperation? ersetzen.“Das Streben nach Symbiose hat auch auf struktureller Ebene viele Vorteile. Gleichartige Monostrukturen werden vermieden, da diese nicht viel Austausch untereinander ermöglichen, was wiederum lokale Ressourcenknappheit verhindert. Die benötigte Vielfalt in auf sehr kleinem Raum schafft außerdem eine steigende Funktionalität der einzelnen Komponenten.  Auch wird strukturellen Schwachpunkten, wie einer zentralen Denkeinheit, entgegengewirkt, da effektive Symbiosen dezentrale Strukturen bevorzugen, sodass eine Verteilung der Steuerungsfunktionalität sinnvoll ist.

Regel 8: Biologisches Design durch Feedback-Planung
Grundsätzlich muss jedes Produkt, Verfahren und jede Organisationsform zum Überleben unserer Spezies und der Natur beitragen, also der Struktur überlebensfähiger Systeme entsprechen. Dies ist nicht nur eine ökologische, sondern oft auch eine psychologische und ökonomische Forderung. Planung und Gestaltung der Projekte müssen daher stets im Feedback mit der lokalen, lebendigen Umwelt erfolgen.
In dem Zusammenhang warnt Vester vor dem Ausbau der globalen Datennetze, die nach seiner Ansicht kein biologisches Design besitzen. Er zieht einen Vergleich mit der Natur, in der keine direkte Vernetzung verschiedener Organismen stattfindet: ?Weder Blutkreisläufe noch Nervensysteme sind über den individuellen Organismus hinaus miteinander verbunden, (…); denn Störungen und Fehler an einer Stelle sollen gerade nicht gleichzeitig auf alle anderen übertragen werden. Nicht umsonst hat die Natur auf eine internet-ähnliche Infrastruktur verzichtet.“ Ein Hinweis, der nachdenklich macht, da nach dieser Regel das Internet auf Dauer kein überlebensfähiges System wäre.

Schlussbemerkung:
Der Umgang mit komplexen Systemen gestaltet sich durch diese Regeln recht einfach, da sie auf das System als Ganzes anwendbar sind und nicht jedes einzelne Glied extra untersucht werden muss. Dies sollte unsere Angst vor komplexen Systemen doch verringern! 

http://thefutureinanutshell.blogspot.de


Dieser Artikel wurde am Freitag, 08. April 2022 im Shop aufgenommen.

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